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Über den Mythos verlässlicher Spieldauerangaben

Roman Pelek von Roman Pelek

Zeit ist relativ

Manchmal tun mir Brettspielverlage Leid. Nicht nur, dass auf jede Schachtel die Angabe der Spielerzahlen muss, wobei das Gewünschte meist im Gegensatz zum Zumutbaren steht. Nicht genug damit, dass eine untere Altersangabe Pflicht ist, die stolzen Eltern durchaus das Gefühl geben darf, dass ihre Sprösslinge frühreife Wunderkinder seien. Auch mit der Kalkulation des Verkaufspreises ist’s noch lange nicht getan. Denn die wahre Hölle ist die vierte Dimension namens Zeit. Schließlich lässt sich bei kaum einer Angabe so trefflich über Wahrheit und Lüge streiten wie bei der Angabe zur Spieldauer.

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Solange wir uns noch im Schmalspurbereich bis 45 Minuten tummeln, ist eigentlich alles in Butter. Eine solche Zeitangabe schreckt niemanden ab, und wenn Ungeübte mal 60 Minuten brauchen, während andere locker in 30 Minuten durch sind, macht da keiner Aufhebens drum.

Interessanter wird es schon bei Spielen der 60- bis 90-Minuten-Liga. Jenseits der eingefleischten Spielerschaft springen hier schon die ersten ab, da ihnen solche Kost, Regelstudium noch draufgerechnet, am Ende eines Arbeitstages zu anstrengend gerät. Die am Ball bleiben, sind nun aber höchst heterogen in ihrem Elan, was direkten Einfluss auf die tatsächliche – und erst recht die gefühlte – Spieldauer hat.

Da gibt es den „flotten Spieler“, für den zu jedem guten Spiel auch der Spielfluss, und letzterer untrennbar zum Respekt vor den Mitspielern gehört. Typischerweise ist dieser Spielertyp geprägt von einer gewissen Entscheidungsfreude, mal mehr aus Kenntnis des Spiels, mal mehr aus Mutwillen, auch aus Fehlern lernen zu dürfen. Treffen mehrere solcher Spieler zusammen, sind sie im Allgemeinen nur durch kollektive Darmgrippe davon abzuhalten, die maximal angegebene Spieldauer gleich für zwei Durchgänge zu nutzen. Bei Außenstehenden erweckt dies allerdings gelegentlich den Eindruck, als hätten es alle eben wegen Diarrhoe so eilig.

Weitaus häufiger auf freier Wildbahn anzutreffen, ist aber der „gemeine Durchschnittsspieler“. Er weiß durchaus um die Vorteile flotten Spielens, ignoriert sie aber gerne zu Gunsten einer Hand voll Chips, der nächsten Gerstenkaltschale oder eines Kommentars zum aktuellen Tagesgeschehen. Alleine diesem Typus ist es zu verdanken, dass Spieldauerangaben weltweit überhaupt ab und an zutreffen. Bösen Zungen zufolge missbraucht der „gemeine Durchschnittsspieler“ dabei jedoch vorsätzlich eine ihm bewusste Lücke zwischen realistischer und angegebener Spieldauer, um sich erkleckliche Mengen der bereit stehenden Nahrungsmittel zu erflegeln.

Die dritte Gruppe bilden die „Grübler“. Für diese Klientel stellen Erfahrung und Bauchgefühl nur suspekte Näherungsverfahren dar. Ergo rechnen sie jede Spielsituation in buchhalterischer Selbstaufgabe bis auf die dritte Stelle hinterm Komma durch. Natürlich erst, wenn sie selbst dran sind, denn „vorher stand ja noch nicht alles fest“. Ein einzelner Spieler dieses Schlags genügt, um die angegebene Spieldauer um gut und gerne 50 Prozent zu überschreiten. Perfiderweise gewinnen solche Naturen sogar häufig. Keineswegs jedoch aufgrund ihrer von ihnen selbst gerne reklamierten Überlegenheit. Sondern weil ihr Wanderdünenelan den übrigen Anwesenden schlicht die Lust an der Anteilnahme versandet hat. Einzig der Gastgeber mag noch ein Gutes daran finden: Schließlich kann er während der Denkpausen jedwede Getränke- und Speisenlogistik ohne Hektik abwickeln. Den anderen sei derweil von lautstarken Kontroversen über das Paarungsverhalten sulawesischer Kobold-Makis abgeraten. Jegliche Störung der Grübler-Konzentration verlängert die Spieldauer nur weiter.

Um die wirklich abendfüllenden Spiele nicht unerwähnt zu lassen, möchte ich abschließend noch ein absolutes Highlight der Spieldauerangabe anführen: die „1h+“. Diese nebulöse Zeitangabe lässt das Herz jedes Hobbyexegeten höher schlagen: Manche behaupten steif und fest, sie sei „rein empirisch in 95 Prozent der Fälle mit einer ‚3-4h-Angabe‘ gleichzusetzen“. Andere wiederum argumentieren, die eine Stunde sei eine faire Angabe für zwei Durchschnittspieler, das „+“ verkörpere lediglich die zusätzliche Spieldauer für „mehr Spieler“ und „komplexere Regelvarianten“. Ich habe da meine ganz eigene Theorie: die „1h“ ist schlicht die korrekte Zeitangabe für das Auf- und Abbauen der mit dem Spiel einhergehenden Materialschlacht. Das mickrige „+“ steht da nur für uns Exoten, die dazwischen partout noch das eigentliche Mammutwerk zu spielen gedenken. Wie lange wir uns dafür Zeit lassen, ist dem Rest der Menschheit sowieso längst egal.

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