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Private Eye

Private Eye

Detektiv-Rollenspiel im viktorianischen England

Im Jahre 1887 erschien der große Detektiv Sherlock Holmes, bezog eine Wohnung in London und löste die verzwicktesten Fälle. Gut 100 Jahre später schickte Private Eye das erste Mal Rollenspieler auf seine Spuren. In der nun 4. Auflage geht es wieder um die Jagd nach Betrügern und Mördern, Dieben, Einbrechern und anderen großen und kleinen Kriminellen in der Stadt an der Themse. Es ist das letzte Drittel des 19. Jahrhundert, die Zeit Queen Victorias, als London das Zentrum des British Empire ist.

Zum Äußeren:
Im Jahre 1988 erschien die 1. Auflage von Private Eye, die sich rasch bei in Rollenspielkreisen einen guten Namen machte und der 1992 und 1993 weitere, verbesserte und ergänzte Auflagen sollten folgen. Zum 20. Jubiläum ließen es sich die Macher allerdings nicht nehmen eine noch einmal komplett überarbeitete und ergänzte 4. Auflage auf den Markt zu bringen. Diese Auflage präsentiert sich als solide verarbeitete Hardcover-Ausgabe mit einem Umfang von 256 Seiten und ist bei weitem kein Vergleich mehr mit der ersten Auflage, die noch als reines Fan-Produkt erschien. Mittlerweile ist „B&B Productions“ bei der „Redaktion Phantastik“ untergekommen, welche die Produktlinie betreuen und in Sachen Qualität und Optik den renommierten Rollenspielverlagen in nichts nachstehen. So stammt beispielsweise die Cover-Konzeption von niemand geringerem als Manfred Escher, der für zahllose Cover-Illustrationen der Cthulhu-Publikationen von Pegasus Spiele verantwortlich ist.

Gediegen zeigt sich auch das zweispaltige Layout der durchgehend schwarz-weiß gestalteten Ausgabe, welches übersichtlich strukturiert und immer wieder mit zeitgenössischen Bildern, Illustrationen, Karten, Werbung und gesondert hervorgehobenen wissenswerten kurzen Erläuterungen aufwarten kann. In der Kopfzeile gibt es zur schnellen Orientierung für den Leser immer einen Hinweis auf das jeweilige Kapitel in dem man sich befindet. Etwas störend sind allerdings die Seitenillustrationen, die als Wasserzeichen konzipiert wurden, leider aber im Kontrast zu stark sind und sich störend beim Lesen auswirken, da der Text über diese Illustrationen hinweg läuft und dadurch hier und da schwer zu entziffern ist. Doch dies ist auch schon der einzige Kritikpunkt am optischen Erscheinungsbild. Ansonsten gibt es weder bei den Karten, den Handouts oder dem Satz irgendwelche gravierenden Mängel.

Als Extra liegt dem Band ein Stadtplan von London im Format A1 bei. Hierbei handelt es sich um einen Nachdruck von „Bacon’s New Map of London“ aus dem Jahre 1895. Als weitere sinnvolle und schöne Ergänzung besitzt der Band auch das von mir immer wieder hochgeschätzte Lesebändchen.

Der Inhalt. Den Auftakt macht das Kapitel „Regeln“, welches auf insgesamt rund 25 Seiten ein überaus einfaches und sehr schlankes System präsentiert. Zunächst gilt es einmal, sich Gedanken über den Beruf des Charakters zu machen. Auch wenn man bei Private Eye jeden nur erdenklichen Beruf ausüben kann, so stehen natürlich detektivische Professionen im Vordergrund. Vorgestellt werden einige archetypische Berufe, nebst Hinweisen für den Spieler, die vom Anwalt, dem Berufsdetektiv, Coroner, Geheimpolizist, Gerichtsmediziner, Journalist, Kriminologe, Polizist und dem Versicherungsdetektiv bereits eine große Bandbreite abdeckt. Denkbar sind natürlich auch Vorschläge wie Butler, Gentleman, Gesellschafterin, bis hin zu medizinischen, naturwissenschaftlichen oder juristischen Berufen. Ist erst einmal eine Auswahl getroffen, so geht es mit der Festlegung der Eigenschaften weiter.

Private Eye Impression
Private Eye Impression

Bei der Erstellung eines Charakters wird zwischen verschiedenen Eigenschaften unterschieden. Es gibt Grundeigenschaften (Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz, Ausstrahlung und Bildung), den persönlichen und den sozialen Eigenschaften. Die Grundeigenschaften werden jeweils mit 2W10 (oder wahlweise W100) ermittelt, in dem man für jede Grundeigenschaft würfelt. Dabei sollte man mindestens einen Wert von zehn für jede Eigenschaft erreichen, maximal 97. Schon hierbei ist dem Spieler ein Höchstmaß an Freiheit zu gewähren, wonach er die Würfe einzeln zuordnen kann oder aber auch so verteilt, wie es am besten für den späteren Beruf (oder aber den Vorstellungen des Spielers) entspricht. Die Lebenspunkte leiten sich aus der Konstitution ab, in dem man diese durch fünf teilt und entsprechend rundet.

Die persönlichen und sozialen Eigenschaften dienen dazu, einen Charakter „abzurunden“ und ihm Leben einzuhauchen. Neben Alter, Größe, Gewicht und Nationalität, die zu den unveränderlichen persönlichen Eigenschaften gehören, sollte man sich Gedanken darüber machen, welche Ausbildung der Charakter hat, wie seine Herkunft aussieht, seine Reputation ist, die im viktorianischen England eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, wie es um sein Vermögen und sein Einkommen bestellt ist und – nicht zuletzt – wo er wohnt.

Ausgehend vom Wert für die Bildung bzw. unter Umständen auch der Intelligenz, können die Spieler für ihren Charakter einen „Punktepool“ erlangen, den sie auf ihre Fertigkeiten verteilen können. Dabei verfügt jeder Charakter über bestimmte Grundwerte bei den Fertigkeiten und weitere, berufsspezifische Fertigkeiten. Es müssen allerdings nicht zwingend alle Punkte aus dem Pool verteilt werden. Es besteht auch die Möglichkeit, Punkte zurück zu halten, bis man ein besseres Bild von seinem Charakter hat, um dann entsprechend Fertigkeiten anzupassen.

Da es bei Private Eye mehr um den Einsatz des Verstandes, denn der Waffen geht, ist das Kampfsystem sehr einfach gehalten. Es gibt insgesamt vier Kampffertigkeiten: Faustkampf, Nahkampfwaffen, Schusswaffen und Werfen. Jeder dieser Eigenschaften ist ein Wert zugeordnet, der die Trefferwahrscheinlichkeit beschreibt. Aus dieser Trefferwahrscheinlichkeit leiten sich jeweils ein Angriffs- und Verteidigungswert für die jeweilige Eigenschaft ab. Entsprechend einfach gestaltet sich der Kampf, wo bei einem Angriff entsprechend auf den Angriffswert der jeweiligen Kampffertigkeit bzw. bei Verteidigung auf den Verteidigungswert gewürfelt werden muss. Der Schaden richtet sich nach dem Einsatz der jeweiligen Waffe.

Proben werden immer mit 2W10 (oder W100) abgelegt, dabei muss das Ergebnis eines Wurfes immer niedriger oder gleich dem Wert der geforderten Fertigkeit sein, damit die Probe bestanden ist. Der Spielleiter kann hier nach freiem Ermessen sowohl Boni als auch Mali für bestimmte Situationen einsetzen.

Natürlich kann man auch Eigenschaften und Fertigkeiten im Laufe des Spieles verbessern. Hierzu gibt es ein System von Erfahrungspunkten, die Aufstiege ermöglichen. Wer vielleicht noch über einen Charakter der 3. Edition verfügt und dieser gerne weiterspielen möchte – kein Problem. Eine Übertragung der Werte ist durch eine übersichtliche Tabelle ohne größere Probleme möglich.

Das Kapitel „Hintergrund“ beginnt mit einem Überblick über die Geschichte des Britischen Empire, wobei die Monarchie und mit ihr natürlich Königin Viktoria den Einstieg bilden. Dabei wird allerdings ebenso wenig die Rolle des Parlamentes vergessen, als auch zeitgemäßer aktueller ein Blick über das Vereinigte Königreich von Großbritannien. Da sich ein Reich wie das Empire nicht ohne Militär zusammen halten lässt, gibt es auch einen Einblick in das Heerwesen, die Marine und die Luftschifffahrt.

Wie es um die Wirtschaft, Erfindungen und Entdeckungen bestellt ist, als auch um die Währung (mit ihrem System, welches viele Kontinentaleuropäer für viel zu kompliziert halten), Maße und Gewichte bekommt der Leser ebenfalls in knapper Form dargestellt.

Eines der Kernstücke dieses Bandes dürfte zweifelsohne der Abschnitt über „London – Weltstadt und Stadtwelt“ sein, in der die Hauptstadt des britischen Empire vorgestellt wird. Hier dreht sich zunächst alles um die geographische Lage der Metropole, das Klima und das Stadtbild, um dann die Verwaltung, Innungen und Zünfte, Handel und Industrie näher zu erklären und sehr gut zu beschreiben. Ebenfalls erläutert wird das Verkehrswesen dieser pulsierenden Stadt wie auch die Unterkunftsmöglichkeiten. Natürlich kommt auch die Londoner Bevölkerung bzw. die viktorianische Gesellschaft nicht zu kurz. Vom Adel bis zum Armenwesen reicht die Spannbreite, wobei es allerdings auch die Damen- und Herrenmode der damaligen Zeit ebenso zu entdecken gilt wie auch die Möglichkeiten, in London beerdigt zu werden. Dies und noch vieles mehr an Fakten dürften mehr als genug Hintergrundinformationen sein, um das Spiel so authentisch wie möglich zu gestalten, selbst wenn es sich um so exotische Themen wie Windhunderennen oder Rudermannschaften der Universitäten von Oxford und Cambridge handelt.

Im Kapitel „Stadtlexikon“ geht es dann um wichtige Örtlichkeiten in London, wobei diese nicht unbedingt zu den Sehenswürdigkeiten gehören müssen, sondern einfach auch nur spieltechnisch von Interesse sind. Das reicht von der Bank of England über die Fleet Street, den Londoner Hafen bis zu den Parks und dem Zoological Gardens. Ergänzt werden diese Örtlichkeiten des Stadtlexikons durch einen Anhang, der einige wichtige Adressen für den täglichen (und auch nicht so alltäglichen) Bedarf von allerlei Sachen bereithält, egal ob es sich um Schuhe, Gesandtschaften, Zahnärzte oder Weinhandlungen handelt.Wichtige Feiertage und Veranstaltungen, einige kurze Biographien berühmter Zeitgenossen, eine kurze Geschichte Englands zwischen 1865 und 1901 sowie ein Stadtplan runden dieses Kapitel inhaltlich ab.

Das Kapitel „Kriminalität“ widmet sich sowohl dem Tatort, als natürlich auch den Tätern und den Möglichkeiten der Ermittler. Dabei holt dieses Kapitel weit aus und so erhält man einen sehr guten Einblick in die damaligen Ermittlungsmethoden, den Stand der Gerichtsmedizin und noch viele weitere Informationen, egal ob es sich um geltenden Gesetze oder aber um potentielle Tatwaffen handelt. Ein weiteres Augenmerk wird hier auf die damaligen Koryphäen des jeweiligen Gebietes gelegt, die zum Teil auch in London wohnen und deren Lebenslauf dargestellt. Fehlen dürfen natürlich auch nicht Anmerkungen zu Scotland Yard als auch der City of London Police – schließlich sollte man als „Detektiv“ auch die Struktur der Behörden kennen.

Den Abschluss in diesem Kapitel macht ein Überblick über einige bedeutende zeitgenössische Kriminalfälle, wobei natürlich auch der Mythos von „Jack the Ripper“ nicht unerwähnt bleiben darf, ebenso wie es auch eine Vorstellung des berühmten literarischen Detektivs Sherlock Holmes gibt.

Wer nach so vielen Informationen und Hintergrundwissen auf den Geschmack gekommen ist, kann sich mit seiner Runde dem sehr gut ausgearbeiteten Einführungsabenteuer „Familienglück“ von Martin Linder widmen, welches nicht zuletzt durch seine ausführlichen Hinweise auf die Schilderung und Abwicklung von spieltechnische Situationen auch absoluten Neueinsteigern sehr gut liegen dürfte. Ein besonders netter Einfall der Macher sind die drei unterschiedlichen Variationen des Falles, die ganz nach Geschmack zum Einsatz kommen können.

Zwar verzichtet Private Eye auf einen Index, aber dennoch beschließt auf den letzten Seiten des Bandes ein recht umfangreicher Anhang den Band, der Kopiervorlagen für Charakterblätter, Tabellen und Checklisten zur Charaktererschaffung, Gezielte Treffer, Regeneration und Preislisten enthält.

Fazit. Die Charaktererstellung in Private Eye ist mit ihren zahlreichen Möglichkeiten denkbar einfach strukturiert, ebenso wie der Regelmechanismus insgesamt durch ein sehr schlankes und fast schon anachronistisches System beeindruckt. Hier wird deutlich, was in diesem Spiel im Vordergrund steht – ein atmosphärisch dichtes Rollenspiel, welches einen sehr hohen Stellenwert auf die authentische Darstellung der Charaktere (nebst des Viktorianischen Englands) legt und damit sowohl dem Spielleiter als auch den Spieler in seinem erzählerischen Können immer wieder fordert (sofern man es denn auf die Spitze treibt).

Beeindruckend ist auch die Fülle an Informationen, die in diesem Quellenband sehr komprimiert versammelt sind. Es sollten eigentlich keine Fragen offen bleiben, da selbst eher beiläufige Themen, wie die bereits erwähnte Mode oder auch andere durchaus wissenswerte Dinge Erwähnung finden. Wer als Spielleiter oder Spieler von Cthulhu nicht unbedingt etwas mit dem ausschließlich detektivischen Konzept von Private Eye etwas anfangen kann, dem sei dieser Quellenband für das viktorianische London auf jeden Fall empfohlen, eignet er sich doch hervorragend als Fundgrube für historische Daten und Fakten, die sich für Cthulhu by Gaslight nutzen lassen.

Für Einsteiger könnte dieses Rollenspiel unter Umständen eine Herausforderung werden, da es zwar ein sehr gut konzipiertes Einführungsabenteuer und eine schier unendliche Menge an Hintergrundmaterialien gibt, aber keine Tipps für den Spielleiter, wie man eine viktorianische Detektivrunde bzw. ein Rollenspiel eigentlich angehen und spielen sollte. Im Vergleich zu den manchmal vorzufindenden Hinweisen „Was ist ein Rollenspiel“, die in ihren Ausführungen oftmals sehr dilettantisch sind,  dürfte dies aber zu verschmerzen sein. Ansonsten sind die kleinen Mängel im Layout, die im Vergleich zum absolut positiven Gesamteindruck des Bandes kaum ins Gewicht fallen, ebenfalls zu vernachlässigen. So dürfte es bei Privat Eye insgesamt ähnlich wie bei einem guten französischen Rotwein sein – mit zunehmenden Alter wird er noch besser und ausgereifter.

Infos zu Private Eye

  • Verlag: Redaktion Phantastik
  • Autor: Jan Christoph Steines, Thilo Bayer, Ulrike Pelchen, Sylvia Schlüter, Peter Schlauch, Martin Lindner
  • Jahrgang: 2008

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