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Gebt den Gesellschaftsspielen mehr Zeit!

Michael Weber

Neuheitenflut vs. Klassiker

blankWenn die offiziellen Statistiken nicht lügen, gab es auf der Spielemesse in Essen 2014 über 850 Neuheiten zu sehen. Klar, da sind Erweiterungen, Neuauflagen und Frühjahrsneuheiten bei. Aber über 850? Das ist viel zu viel. Erneut zu viel!

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Internationalisierung bringt Kampf um Absatz

Mit zunehmender Internationalisierung der Spielemesse und des Spielmarktes im Zeitalter des Internets steigt natürlich die Verfügbarkeit von Gesellschaftsspielen. Früher hätte von den ausländischen Brett- und Kartenspielen ein Bruchteil den Weg nach Deutschland gefunden. Vieles wäre allenfalls Kennern aufgefallen und dann mühsam einzeln geordert worden. Heute ist alles viel einfacher. Angefangen von rührender PR auf Social-Media-Kanälen über „verlags- und redaktionsunabhängige“ Veröffentlichungen via Kickstarter (ja, auch mittlere Verlage nutzen die Plattform) bis hin zur professionellen Präsentation ist alles dabei, was Begehrlichkeiten wecken könnte und den Weg öffnet.

Neue Masse ersetzt junge Spiele

Da muss der deutsche Spielemarkt etwas Platz machen (und kann noch viel lernen, davon aber später mal), um die vielen Spiele aus dem Ausland aufnehmen zu können. Die deutschen Verlage wollen dies indes gar nicht zulassen und versuchen, ihre Regalplätze zu halten. Scheinbar, indem sie auf Masse setzen. Masse an Neuheiten. Auf der Strecke bleiben gute Spiele aus den Vorjahren. Spiele, die den Absatz an Massen verpasst haben und nicht nur Freaks ansprechen. (Kleiner Einwurf: Schon gewusst, dass viele „Freakspiele“ in einer ungefähren 1.000er-Auflage erscheinen, weil die dann komplett verkauft werden kann?) Jedenfalls haben gute Gesellschaftsspiele kaum eine Chance, wenn sie zwischen großer Auflage und fester Vielspielerzielgruppe liegen. Klappt es nicht im ersten – meistens (zu) wenig beworbenen Anlauf – dann droht das schnelle Aus. Das Spiel wird einfach von der Handelsliste gestrichen bzw. nicht wieder aufgelegt. In einem Produktsegment, in dem es selten handwerklich richtig schlechte Waren gibt, ist das ein Irrsinn.

Klassiker müssen wachsen

Klar, Klassiker müssen wachsen. Aber typische Klassiker wie wir mit anderer Zielsetzung in unserer Rubrik Spiele-Empfehlung oder gar im Spielemuseum Ludomu zeigen, sind Zufallstreffer. Mitunter meint man als halbwegs objektiver Beobachter, die Verlage arbeiten wohl nach dem Motto: Viel veröffentlichen, dann wird eins schon hängen bleiben. Mir wäre es lieber, die Verlage würden weniger Spiele veröffentlichen, dafür sich aber dann intensiver um den Erfolg jedes einzelnen Spieles kümmern. Von der Entwicklungsarbeit mal ganz zu schweigen. Da muss ich nicht einmal aus meiner Sicht stellenweise diskussionswürdige Beiträge wie den der Kollegen von poeppelkiste.de zitieren, die auf Qualitätsmängel hinweisen.

Kein Verlag veröffentlicht ein Gesellschaftsspiel, damit es sich nicht verkauft. Aber der Durchsatz ist so groß, dass gar nicht jedes Produkt nachhaltig angeboten werden kann. Klassiker wollen erst gehegt und dann gepflegt werden! So gelingt es, Spiele zum Erfolg zu führen, manchmal dauert das eben auch zwei Jahre oder mehr. Nur so können Klassiker überhaupt entstehen.

Derzeit passiert das Gegenteil: Die Neuheit, die auf der Spielwarenmesse in Nürnberg (Termin: Anfang Februar!) vorgestellt wird und im Mai in den Handel kommt, auf der Spielemesse in Essen (Oktober) bereits ein altes Eisen. Das ist absurd und nimmt dem Gesellschaftsspiel als Ganzes die Luft zum Atmen. Es bleibt ein wildes Hecheln. Ein Hinterherhecheln nach immer Neuen, während das ebenso gute und gar nicht mal alte Brett- oder Kartenspiel im Regal Staub ansetzt. So entstehen keine neuen Klassiker. So entstehen keine langlebigen Massenerfolge. Wie viele Spiele der letzten zehn Jahre sind denn an der Stufe zum potenziellen Klassiker?

Appell an Verlage und Spieler: Gebt den Gesellschaftsspielen mehr Zeit!

Mit dem Appell: „Gebt den Gesellschaftsspielen mehr Zeit“, möchte ich alle Beteiligten zu etwas mehr Besonnenheit aufrufen. Masse erzeugt nicht automatisch Klasse und Neues ist nicht besser als Altes. Es liegt natürlich an allen Beteiligten und auch der Spielejournalismus, zu dem Reich der Spiele selbstverständlich gehört, hat seinen mehr oder wenigen großen Anteil an der Entwicklung. Ganz zuletzt helfen Klassiker aber der gesamten Branche. Denn mit einem Klassiker im Programm dürfen Spieleverlage auch einmal ein gewagtes Spiel veröffentlichen. Mit einem Klassiker besetzten sie Regalplätze im Handel oder finden den Weg dorthin. Nicht zu vergessen: Ein großer Teil der mehr oder weniger häufig spielenden Menschen wird erkennen, dass auch ein, zwei Jahre alte Gesellschaftsspiele noch immer viel Spaß machen. Auch dabei entsteht langfristig ein Klassiker. Der Wert eines Spiels besteht doch genau darin, es immer und immer wieder mit viel Spaß spielen zu können und dabei neue Taktiken, Tiefen und Möglichkeiten zu entdecken. Und dann ist es eben mehr als fraglich, ob der Spielemarkt wirklich mehr als 850 Neuheiten benötigt …

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5 Kommentare

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Nils Kruse 22. Oktober 2014 at 08:08

Hallo Michael,

danke für den Beitrag.

Aber basiert der Artikel wieder auf der Sichtweise des Vielspielers und sind wir nicht eine für den Erfolg der Verlage zu vernachlässigende Randgruppe? 😉

Dein Vorschlag für Dein Marketingkonzept besteht doch bereits und wird seit vielen Jahren praktiziert. Wirf mal den Blick gen Hasbro und Mattel. Die haben wenige Produkte im Regal, die aber hochprofessionel vermarktet werden. Uno, Monopoly und Co haben welche Zielgruppe?

Möchten wir uns dort wirklich einreihen?

Die positive Kehrseite der massenweise Produktentwicklung ist doch die für den Vielspieler interessante, rasante Mechnismenentwicklung. Damit wird uns nicht fad und dafür sollten wir vielleicht dankbar sein. Auch – wenn auf uns die große Last der Selektion für die Perlen fällt.

Liebe Grüße
Nils (schätzt die Vielfalt der Marketingkonzepte)

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Michael Weber 22. Oktober 2014 at 08:49

Danke für das Feedback, Nils.
Nein. Ich habe ganz bewusst nicht die Brille des Vielspielers aufgesetzt. Der hetzt zwar von Neuheit zu Neuheit, aber freut sich natürlich über eine riesige Auswahl. Es ist eher die Sicht von „halbaußen“ und als Medium und von Endverbrauchern ganz oder halb außerhalb der Szene. Dass Hasbro und Co. Klassiker pflegen wie auch Siedler und Carcassonne oder Zug um Zug gehegt und gepflegt werden, steht ja außer Frage. Aber genau das ist es ja: Davon gibt es zu wenig Spiele. Daher frage ich auch: Welche Spiele aus den letzten zehn Jahren haben denn das zeug, ein Klassiker zu werden? Viele davon sind ja nicht einmal mehr auf der Verkaufsliste, wenn die nächste Messe ansteht. Und das meine ich. Es wird nur noch rausghauen, was geht. Es wird nicht mehr gezielt entwickelt, sondern Zufallstreffer werden ausgebaut. Alles andere bleibt auf der Strecke, OBWOHL solche Spiele viel Spaß machen und eine zweite, dritte Chance verdient hätten. Beim Verlag, im Handel und bei den Spielern! Ohne Klassiker (neue, „moderne“) fehlt der Branche etwas. Klassiker machen die Branche erst aus.

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Frank Riemenschneider 23. Oktober 2014 at 17:50

Ich habe eine Spielegruppe mit Wenigspielern. Wir treffen uns so zwei Mal im Jahr. Highlight ist in dieser Gruppe immer noch Dominion. Dieses Spiel haben die sich echt erarbeitet und sind nach wie vor Stolz ein so  „kompliziertes“ Spiel zu spielen. Neue Spiele lernen sie quasi nur von mir kennen und sind jedesmal erstaunt, wie viele Spielregeln (ich bringe immer so ca. zwanzig Spiele mit) ich im Kopf habe. Sie ahnen ja gar nicht… Wenn ich dieser Gruppe ein (für sie) neues Spiel erkläre, ist das für uns Spieler schon ein alter Hut und neue Spiele sind längst in der Pipeline. Aber, für wen sind denn dann die vielen Neuheiten, wenn die potenziellen Käufer gar nicht mitkriegen was für neue Spiele es gibt? Für die Regaleinkäufer der Warenhausketten? Ne auch nicht, denn wenn meine Gruppe neue Spiele kennenlernt und gut findet, müssen die sich schon sputen um die Restbestände zu kaufen. Schließlich sind diese Spiele dann schon ein paar Monate auf dem Markt.

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Hendrik Breuer 25. Oktober 2014 at 13:39

Also ich habe „unseren“ Wenigspielern vor ein paar Wochen mal das Spiel des Jahres von 1994, Manhattan, erklärt, das fanden die super. Selbst die altbackene Grafik kam „retro“ rüber… Ich stimme Riemi wirklich zu: Ganz wenige Leute bekommen diese Spieleflut überhaupt mit. Ist wirklich ein komischer Markt.

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Bernhard Zaugg 25. Oktober 2014 at 12:54

Dass viele auch sehr gute ältere Spiele zu Unrecht verdrängt werden, ist wirklich bedauerlich. In meinem Umfeld hat sich ein Kreis von Leuten gebildet, die gerne spielen, aber das teilweise schon seit längerm nicht mehr getan haben. Und die wollen ihre Zeit halt nicht mit irgendwelchen Spielen verschwenden, von denen oft auch ich noch nicht weiss, ob sie wirklich etwas taugen. Daher greife ich da gerne auf „ältere“, bekanntermassen gute Spiele zurück, die ich selber teilweise schon länger nicht mehr gespielt habe und die so gewissermassen von allen entdeckt werden können. Nur findet man die selbst im Fachgeschäft meist schon lange nicht mehr und müsste sie bestellen, falls sie überhaupt noch lieferbar sind. Da geht viel Wunderbares verloren!

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