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Streitgespräch: Neuheiten – Masse statt Klasse?

Roman Pelek und... von Roman Pelek

Pelek vs. Weber

Spieleautor und –rezensent Roman Pelek diskutiert mit Michael Weber, Herausgeber von Reich der Spiele, ganz frontal die alljährliche Neuheitenflut, die auch zur Essener Spiel ’05 wieder auf die Spieleszene hereingeprasselt ist.

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Michael Weber: „350 Neuheiten wurden in Essen 2005 vorgestellt. Als ob es noch nicht genug Spiele auf dem Markt gäbe. Da fragt man sich doch, mein lieber Pelek, wie viele davon braucht der Mensch eigentlich?“

Roman Pelek: „Brauchen erstmal gar keine – Spiele sind ja keine Lebensmittel, Weber. Aber selbst angesichts der Zeitgenossen, die sich mit Spielen ihre Freizeit versüßen möchten, sind viele Spiele natürlich die meiste Zeit damit beschäftigt, Luft zu verdrängen. Erst beim Händler, dann beim Kunden. Doch sehen wir’s positiv: Wenigstens erfreut das die Vermieter der jeweiligen Lokalitäten.“

Weber: „So kommt also den vielen Neuheiten zumindest eine wirtschaftliche Bedeutung der ganz anderen Art zu. Ich muss Ihnen leider zustimmen, dem gemeinen Spieler scheint die immense Anzahl wenig zu nutzen, denn wer kann schon jeden Tag ein neues Spiel spielen. Überhaupt muss man sich doch fragen, wie oft werden die nach dem Kauf eigentlich gespielt? Mehr als ein, zwei Partien sind selten drin, denn dann kommt schon die nächste Neuheit und fordert ebenfalls ihren Tribut. Ganz zu schweigen davon, dass unterdessen die alten und längst für gut befundenen Perlen in den untersten Regalschichten verstauben und dort wieder nur – wie sagten Sie so schön – Luft verdrängen.“

Pelek: „Nun, und wie sieht’s erst jenseits der eingefleischten Spielergemeinde aus? Weihnachten steht vor der Tür, und ich möchte gar nicht wissen, wie viele Spiele heuer wieder verschenkt, aber nie gespielt werden. Sei es, weil sie den Geschmack des Beschenkten nicht treffen oder niemand sich bemüht, sich die Spielregeln anzueignen. Wir eingefleischten Spieler können uns ja noch an die eigene Nase fassen und sagen: Selbst Schuld, wenn man sich ob der eigenen Neu(heiten)gier unablässig Spiele anschafft. Aber wie wollen wir mehr Leute für unser Hobby begeistern, wenn soviel Stanzpappe in unseren Landen gänzlich brach liegt? Das ist doch die Crux, Spiele sind zum Spielen und nicht zum Staubfangen gedacht.“

Weber: „In der Tat. Gerade zu Weihnachten finden die bekannten ‚Klassiker‘ sowie Die Siedler von Catan und das aktuelle Spiel des Jahres den Weg in die unbedarfte, von der Jury und den Verlagen als DIE Zielgruppe schlechthin definierte, Familie. Aber nur weil Monopoly oder ein roter Pöppel auf der Schachtel steht, muss ein Spiel ja noch nicht gespielt werden. Und wie soll ‚die Familie‘ die Einstiegshürde Spielanleitung schaffen, in einer Zeit, in der PISA uns sagt, wie schlecht wir lesen können, und die Computerspiele das intuitive Spielvergnügen vorleben?“

Pelek: „Ich schätze, es mangelt an Beratungsleistungen. Was nützt es im Weihnachtsgeschäft, wenn die Verkäufer nur die Handvoll Brettspiele kennen, die in Heavy Rotation im Kinderprogramm beworben werden? Machen Sie doch mal die Probe auf’s Exempel. Suchen Sie sich in einem solchen Laden ein durchschnittliches Brettspiel aus und fragen Sie dann unschuldig dreinblickend einen umherstreunenden Verkäufer, ob er wüsste, wo dieses Spiel steht. Nicht selten bekommen Sie da die Antwort: ‚Kennen und führen wir nicht.‘ Da steht die Vielzahl der erhältlichen Spiele in einem krassen Missverhältnis zu den bekannten, die beileibe ja nicht immer die besten sind. Tja, und die Einstiegshürde Regelstudium: Man kann ja nicht jeder Schachtel einen Erklärer beifügen, dem würde da drin ja auch ziemlich klaustrophobisch zumute werden. Aber vielleicht sind bewegte Bilder auf DVD oder im Internet erste Indizien dafür, wohin die Reise gehen könnte – noch ist das alles etwas umständlich, da man dafür Peripheriegeräte braucht, die nicht notwendigerweise immer dort bereit stehen, wo gespielt wird. Eventuell sehen wir in Zukunft ja auch intelligente Spielpläne sich in breiter Front etablieren, die die Spieler unterstützen. Was meinen Sie, Weber?“

Weber: „Nun, Pelek, ich verweigere mich ja sogar einem Handy. Wie soll ich also etwas Sinnvolles darauf sagen? Aber ich fürchte, die Zeit der bärtigen, jesusbelatschten Freaks ist zwar offensichtlich vorbei – auch wenn ein paar ältere Herren dieser Spielergeneration gerne das ultimative Spielewissen für sich gepachtet sehen möchten -, aber der Spieler an sich scheint mir ebenfalls solch neuer Technik nicht besonders zugetan zu sein. Teuber stopfte ja schon den Professor in die Schachtel, Knizia die Intelligenz per Elektroleitung unter das Spielbrett. Trotzdem scheint eine Spielregel schon nach fünf Sätzen zu lang zu sein, ein ‚intelligentes Spiel‘ wie Die Insel zu eingeschränkt und für die Meisten aus der Spieleszene nicht fordernd genug. Den auf der Hand liegenden nahezu unmöglichen, weil viel zu schmerzhaften, Spagat muss ein Spiel leisten, wenn es im Verkauf Klasse und zugleich Masse sein will. Ist es am Ende nicht logisch, lieber Pelek, dass die Verlage Masse auf den Markt schmeißen? Frei nach dem Motto: Für jeden Spielertyp wird schon irgendeins zur Klasse werden.“

Pelek: „Na ja, das hat ein wenig den Charme, als würde man wild mit Schrot in die Luft ballern, in der Hoffnung, dass irgendwann eine Taube vom Himmel fällt. Dennoch ist da etwas Wahres dran, und manchem Überraschungserfolg haben ja auch wir Spieler es zu verdanken, dass unsere geliebten, anspruchsvollen Spiele, die Klasse eben, finanzierbar bleiben – Quersubventionierung halt. Was die Kinderkrankheiten elektronisch unterstützter Spiele anbelangt: Die ersten Schritte in neuem Terrain sind immer etwas holprig. Aber vielleicht entwickelt sich das ja noch, und wir sehen in Zukunft mehr in dieser Richtung, was auch Spielerherzen begeistern könnte. Da bin ich bei aller Technikaffinität auch ein wenig altmodisch bin, habe ich aber gar nichts dagegen, etwas vor mir zu haben, in dem keine Elektronik steckt. Aber zum Beispiel das gute alte Kartenspiel dürfte so oder so nicht vom Aussterben bedroht sein. Nur, lieber Weber, bleibt die Frage damit weiterhin offen: Rettet uns also doch weiterhin Masse eher als Klasse, weil wir alle nicht so genau wissen, in welche Zukunft uns dieses Boot namens Brettspiel tragen wird? Und setzen wir weiter auf Spielanleitungen vom Umfang eines Waschzettels, bis uns mal wieder ein Spiel wie Die Siedler von Catan davon überzeugt, dass es auch anders geht?“

Weber: „Tja, so lange jeder Verlag glaubt, das nächste Die Siedler von Catan zu produzieren, bleibt uns zumindest die Masse nicht erspart. Jetzt könnte man meinen, dass bei so viel Masse auch etwas Klasse dabei sein sollte – sicher bin ich mir da aber nicht. Jedenfalls keine Klasse für die Masse; und das ist ja entscheidend für die Verlage und damit dann letztlich für die Szene, was diese allzu gerne vergisst. Mein Tipp ist aber dennoch der: Alle fünf bis zehn Jahre kommt ein Spiel, dass ein Massenhit wird. Siehe Die Siedler von Catan und Carcassonne. Da fällt mir auf, dass der nächste Hit gerade schon entstehen müsste … Und Spielanleitungen, lieber Pelek: Wie viele wirklich gute und für unbedarfte Neuspieler zugängliche kennen Sie denn? Entweder sind die Texte zu ausführlich, damit jeder Dummkopf sie versteht, und damit aber zu lang, um überhaupt jemanden zum Lesen zu bringen, oder sie sind so störrisch formuliert, dass selbst eine der an sich ausreichend vorhandenen Spieleperlen zum Frustbeschaffer in williger Spielerunde verkommt. Nein, hier ist leider noch viel zu tun, wie Sie als Rezensent, aber auch Autor und damit Regelerfinder sicher aus Selbstversuchen bestätigen können?“

Pelek: „Ein gutes Schlusswort, Weber, und in der Tat: Eine vernünftige Spielregel zu schreiben, ist eine Kunst für sich, und gerade bei diesem Aspekt bin ich gespannt, welche neuen Ansätze uns die Zukunft bringt. Denn wer unterm Weihnachtsbaum bereits beim Regellesen verzweifelt, dem bringt das nächste Christkind vielleicht kein solches Schächtelchen mehr.“

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