Ob es nun Bauer, Landwirt oder Agrartechniker heißt ist völlig egal. Bei Agricola hat man schlicht Hof und Felder zu bestellen. Allein das zählt. Und dass die Familie nicht am Hungertuch nagen muss. Etwas Zusatzausbildung und die eine oder andere Anschaffung tun ihr Übriges. Ach ja, so ein Hof muss ja gepflegt werden, denn mit wachsender Familie steigen auch die Ansprüche und mit einer wachsender Zahl von Äckern und Tieren auch die Arbeit. Überhaupt hat so ein Bauer es schwer, gibt es doch immer mehr zu tun, als eigentlich zu schaffen ist …
Strukturiert geht das Spiel über 14 Runden, in denen jeweils neue möglichen Aktionen für die Spieler hinzukommen. Damit wird das Anfangs noch überschaubare Spiel nach und nach dank der Fülle von Aktionsmöglichkeiten zu einer Optimierungsschlacht, denn auch die Mitbewerber stehen früh auf und versuchen, die vorhandenen Möglichkeiten (heißt: spieltechnisch blockierend) auszuschöpfen. Gut, dass bald der erste Nachwuchs (Arbeitskräfte beziehungsweise zusätzliche Aktionen) gezeugt ist und Ausbildungen oder eine eigene Feuerstelle beziehungsweise ein Ofen das Leben vereinfachen und weitere Möglichkeiten eröffnen. Besonders eine Feuerstelle ist wichtig. Denn was wäre ein Bauer, wenn er sich nicht selbst versorgen könnte. Für die Umwandlung von Getreide und Tieren in Nahrung ist aber eben etwas Küchenkunst erforderlich. Die Ernährung wird immer wieder zum Dreh- und Angelpunkt für die Bauersleute, denn alle zwei bis drei Runden muss genug Nahrung vorhanden sein, sonst droht der Bettelstab (und damit Abzüge am Spielende). Die damit verbundene Hetze, möglichst rasch die „Ernte“ zum Überleben einzufahren, bringt etwas Zwang und Aktionsnot ins Spiel. In meinen Augen ist das die eigentliche optimale Verknappung der Ressourcen im Spiel, die nur durch günstige Kartenkombinationen locker angegangen werden kann. Und genau das ist schade, denn kann der Zufall einzelne Spieler erheblich bevorteilen.
Am Hof arbeitet die ganze Familie. Deshalb wächst der Besitz schnell zu einem ansehnlichen Gut. Hier ein Acker mehr, dort eine neue Koppel, hier ein Schaf, dort neues Gemüse, schnell noch die Hütte renoviert und für das nächste Kind erweitert, nicht ohne zuvor Baumaterialien geholt zu haben. Visuell zeigt sich diese Entwicklung schön und nachvollziehbar am eigenen Tableau, das den Hof darstellt. Pflügt man ein Stück Land, wird ein Acker gelegt. Sät man Getreide aus, kann man die anschließenden Runden ernten. Baut man eine Weide, legt man Holzstäbe und so weiter. Zudem ist das alles sehr schlüssig, so dürfen auf eine Weide nur Tiere einer Art. Will man sich eine zweite Tiersorte anschaffen, müssen eine zweite Weide oder zumindest ein Stall her.
Am Ende gewinnt übrigens der Spieler, der das beste Gesamtbild eines Bauern bietet, das heißt, die meisten Punkte sammelt. Es empfiehlt sich deshalb, keinen Bereich – auch nicht den Ausbau seiner Hütte – zu vernachlässigen, denn dafür gibt es Minuspunkte, die kaum durch eine Konzentration auf wenige Bereiche aufgeholt werden können. Der beste Bauer ist eben nicht der mit einer Herde Schafen und vielen Gemüsebeeten, sondern einer, der sein Können in volle Breite zeigt.
Etwas kritisch sind die Handkarten zu bewerten, die zusätzliche Möglichkeiten bieten. Zum einen die Ausbildungskarten. Diese eröffnen über Zusatzqualifikationen eine optimierte Nutzung von Aktionen oder Besitz. Zum anderen die Anschaffungen. Für sie gilt Ähnliches, sie müssen aber zum Teil teuer bezahlt werden. Nicht verheimlicht werden soll, dass es gute und schlechte Starthände gibt, manchmal nutzen dem fleißigsten Bauern keine Karten, manchmal findet der dümmste die dicksten Kartoffeln. Das ist etwas ärgerlich, aber unvermeidlich bei der vorhandenen Kartenfülle. Dennoch greifen mögliche Zufallskombinationen hier mitunter sehr stark ins Spielergebnis ein. Dessen sollte man sich bei aller Optimierung der eigenen Züge bewusst sein.
Die Handkarten sind dreigeteilt in ein Einsteiger-, Interaktiv- und ein Komplex-Deck. Dies ermöglicht zusätzlich zur Vorgabe bestimmter Karten nach Spielerzahl ein flexibles und auf die Bedürfnisse und den Kenntnisstand der Spielrunde angepasstes Kartendeck. Dazu gibt es eine etwas leichtere Familienversion und eine überaus fordernde Solovariante des Spiels. Es ist an alles gedacht und auch das Material schlägt mit samt Karton über zwei Kilogramm überaus üppig zu Buche. Die Spielanleitung ist sehr detailliert, aber damit für Neulinge zwar etwas schwer zu lesen. Dafür stellen sich Regelfragen nur bei bestimmten Kartentexten, von denen die meisten aber in der Anleitung zusätzlich erklärt werden.
So ein Bauersleben ist hart. Und deshalb müssen auch die Spieler leiden. Denn Agricola grenzt an Arbeit, schafft aber durch einen leichten Spielablauf und ein ansprechendes und überzeugendes Thema den Spagat zwischen staubigen Optimieren, taktischen Ausprobieren und lockeren Spielspaß. Das muss Verlag und Autor hoch angerechnet werden, denn so wird aus einem Monsterspiel eine Referenz. Kritikpunkt ist jedoch, dass die Spieldauer insbesondere bei „Jungbauern“ mit 30 Minuten pro Spieler (die in der ersten Partie übertroffen werden) etwas zu lang und damit bei voller Besetzung oder notorischen Grüblern an der Grenze zum Wiederspielreiz liegt. Wer Optimierungsspiele mag und sich durchkämpft wird mit einem spielerischen Leckerbissen belohnt. Doch kommen einige gar nicht so weit, zu komplex und lang kann das Spiel auch wirken.
Abschließend möchte ich noch zwei Punkte anbringen. Agricola ist sicher für Familien spielbar, aber trotz Familienspielregel weit von einem typischen Familienspiel entfernt. Ohne Anlernen durch einen erfahrenen Spieler ist die harte Landwirtschaft kein Vergnügen für jedermann. Als zweites: Agricola wird in den Rezensionen vieler Kollegen hoch gelobt und stellenweise unkritisch gehypt. Agricola ist ein ganz bestimmt gutes Spiel, aber auch eins, an dem sich die Geister jenseits der „Freakspielszene“ scheiden werden. Eine Perle für eine kleine Gruppe motivierter Spieler, aber eine schwere Herausforderung für Gelegenheitsspieler, die den Spielspaß zwischen sehr groß und kaum vorhanden pendeln lässt.
Für mich ist Agricola ein Klassespiel, das ich in der richtigen Besetzung oder als Solovariante immer wieder gerne spiele. Hut ab vor den Machern für dieses Thema, diese Materialfülle, diesen eingängigen Spielablauf und diese komplexen Wechselwirkungen. Wer das nicht mag oder gegen den Zufall durch die Karten ist, für den sind eben Ackerbau und Viehzucht nichts. Der kann weiter Rittersmann und Händler spielen oder als General virtuelle Armeen führen, auf einer Plantage anheuern, an der nächsten Ecke frei parken oder mal einfach einen Trumpf auf den Tisch knallen.
Webseite des Verlages mit Infos zum Spiel
Infos zu Agricola
- Verlag: Lookout Spiele
- Autor: Uwe Rosenberg
- Spieleranzahl (von bis): 1 - 5
- Alter (ab oder von bis in Jahren): 12
- Dauer in Minuten: 150
- Jahrgang: 2007
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