Vom Hörensagen über Symbolismus zum Regenbogen
Bruno Faidutti hat eine Reihe von Gesellschaftsspielen erfunden. Eines seiner bekanntesten ist Citadels (Ohne Furcht und Adel). Eines seiner Hobbys ist weniger bekannt. Er forscht über Einhörner. Was zunächst wie eine kleine Spinnerei wirkt, hat eine wissenschaftliche Basis. Er hat sogar über das Thema „Mythologie des Einhorns“ promoviert. Was bewegt einen Menschen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Und warum gibt es eigentlich kein Einhorn-Spiel von ihm? Wir haben Bruno Faidutti einfach gefragt.
English interview: Bruno Faidutti about unicorns (words only)
Einhörner statt Schach
Bruno, du hast ein kurioses Hobby. Du forschst über Einhörner und hast sogar eine Doktorarbeit zu diesem Thema geschrieben. Was fasziniert dich an diesem Thema?
„Ich habe recht spät angefangen, Geschichte zu studieren, als ich schon Soziologie und Wirtschaft unterrichtete, und mein Interesse gilt vor allem der Ideengeschichte. Mich faszinierten damals die Menschen, vor allem Wissenschaftler und andere Spezialisten, die immer einen kritischen Blick auf das Wissen hatten, das sie geerbt hatten, und versuchten, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.
In meinem ersten Masterarbeitsentwurf ging es um Spiele, und zwar darum, wann und wie die aus dem Mittelalter überlieferten Legenden über die Ursprünge des Schachspiels – dass das Spiel während des Trojanischen Krieges oder in Camelot oder in Island erfunden wurde – im späten Mittelalter aufgegeben wurden und sich die Idee, dass es aus Indien oder China über die arabische Welt kam, schnell durchsetzte.
Das war ein bisschen wenig für eine große Doktorarbeit, also suchte ich nach einem anderen ähnlichen Thema, und ich fand das Einhorn interessant. Es war vor allem deshalb interessant, weil es nicht so schnell aufgegeben wurde wie der Drache oder der Greif. Wenn man von ein paar lustigen Jungfrauengeschichten absieht, hat ein Vierbeiner mit einem einzigen Horn eigentlich nicht so viel Fantastisches.“
Um es klarzustellen: Du suchst nicht nach Hinweisen, ob es jemals ein Einhorn gegeben hat. Deine Forschung beschäftigt sich mit der Bedeutung der Symbolik, richtig?
„Ich interessiere mich nicht wirklich für Symbolik an sich, ich bin sogar sehr vorsichtig damit, aber ich musste mich manchmal damit beschäftigen. Was ich erforscht und geschrieben habe, hat mehr mit Zoologie und Medizin zu tun. Damit, wie sich die Wissenschaft vom 14. bis zum 19. Jahrhundert mit der Idee des Einhorns und der Verwendung seines Horns in der Medizin auseinandergesetzt hat.“
Der Ursprung der Einhörner
Fangen wir ganz am Anfang an: Woher kommen die Einhörner? Gibt es so etwas wie eine „erste Quelle“ für Erzählungen über diese Fabelwesen? Es gibt Tiere wie die Java-Nashörner und den Narwal …?
„Ein interessanter Punkt beim Einhorn ist, dass man seinen Ursprung im Gegensatz zum Drachen, Pegasus oder der Sirene nicht in alten Märchen oder in der Mythologie finden kann. Da dieses Interview in einem deutschen Magazin veröffentlicht wird, haben einige Leser vielleicht gelesen, was C. G. Jung in ‚Psychologie und Alchemie‘ über das Einhorn geschrieben hat. Damit das klar ist: Das ist zusammenfabulierter gelehrter Schwachsinn.
Die ersten Quellen über Einhörner finden sich in griechischen Texten, insbesondere bei Ktesias von Knidus im V. Jahrhundert v. Chr., der schrieb, dass es ‚in Indien einhörnige Esel gibt‘. All diese frühen Quellen, die erst im späten Mittelalter wirklich diskutiert wurden, führen entweder zu einer Antilope im Nebel oder zu jemanden, der mit jemanden sprach, der mit jemanden sprach, der ein Nashorn gesehen hat.“
Sind diese Ursprünge ein Grund, das Einhorn hauptsächlich als pferdeähnliches Tier darzustellen? Gibt es auch andere Darstellungen?
„Einige frühe Texte beschreiben es als ziegen- oder eselähnlich, und die mittelalterlichen Buchmalereien zeigen Einhörner in verschiedenen Farben, Größen und Formen. Es gibt keinen eindeutigen Grund dafür, warum es die Form eines Pferdes angenommen hat, aber es behält normalerweise zwei Merkmale der Ziege, einen kleinen Bart und gespaltene Hufe.“
Du hast den Gebrauch in der Medizin erwähnt. Auch wenn es keinen Beweis für ein Einhorn gab, haben Wissenschaftler oder Ärzte wirklich über den Nutzen nachgedacht? Welche Wirkung wurde dem Horn zugeschrieben?
„Bis zum 17. Jahrhundert wurden Narwalstoßzähne als Einhornhörner verkauft. Pulverisiertes Einhornhorn galt als sehr gutes Gegengift, und die Spitze des Horns selbst wurde manchmal in Wein getaucht, um ein mögliches Gift zu neutralisieren. Es funktionierte natürlich nicht wirklich, damit Gifte zu neutralisieren. Aber es könnte funktioniert haben, potenzielle Mörder davon abzuhalten, den Wein zu vergiften.“
Symbolismus im Mittelalter
Das Einhorn ist ein Symbol. Welche Bedeutung hat dieses Symbol in der Geschichte? Gibt es typische Zuschreibungen und hat es sich im Laufe der Zeit verändert?
„Für die Menschen des Mittelalters und der Renaissance, die darüber geschrieben haben, war das Einhorn ein Tier. Es ist so real wie andere Kreaturen aus dem (Anmerkung der Redaktion: mittelalterlichen) Bestiarum wie der Löwe, der Elefant, der Drache, die Sirene oder die Giraffe. Es gibt verrückte Geschichten darüber, dass es nur von einer reinen Jungfrau gefangen werden kann oder dass es mit seinem Horn das Wasser reinigt und deshalb Christus symbolisiert. Aber es gibt ähnliche Geschichten über alle Tiere. Der Löwe verwischt seine Spuren mit seinem Schwanz, so wie Jesus seine Göttlichkeit verbarg, die Bären sind bei der Geburt tot und werden drei Tage lang von ihrer Mutter geleckt, bevor sie lebendig werden, der Elefant liebt einmal im Jahr an den Mauern des irdischen Paradieses usw.
Heute sehen wir das Einhorn hauptsächlich als Symbol, weil es eben nicht existierte und es der Großteil ist, was von ihm übrig geblieben ist. In der Renaissance wurde es noch oft zusammen mit schönen Frauen gemalt und wurde zum Symbol der Jungfräulichkeit.“
Gibt es Gründe, die Jungfräulichkeit mit dem Einhorn in Verbindung zu bringen? Ist das Einhorn auch ein Ausdruck von Sexualität oder eines Phallus?
„Das mittelalterliche Bestiarium besagt, dass das Einhorn von jungfräulichen Jungfrauen angezogen wird. Und einige Interpretationen der Einhornjagd identifizieren die Jungfrau, die das Einhorn verführt, mit Maria. Was aber nicht bedeutet, dass das Einhorn selbst rein ist – es könnte sogar das Gegenteil bedeuten. Es gibt einige Marginalien, d. h., Illuminationen am Rande von Handschriften, die nicht oder nur sehr lose mit dem Text verbunden sind, in denen das Horn des Einhorns eindeutig einen Phallus darstellt. Einige Humoristen der Renaissance, wie Rabelais, haben diese Idee ebenfalls aufgegriffen.“
Ist das Einhorn eher ein Ausdruck von Künstlern oder sogar eine Methode der Kirche und der Herrscher im Mittelalter, um die Menschen, insbesondere die Frauen, zur Tugendhaftigkeit zu „erziehen“?
„Nicht wirklich. Das Bestiarium war ein schriftlicher Text, der vor allem von gebildeten Menschen gelesen wurde und weder in biblischen Texten noch in volkstümlichen Überlieferungen vorkommt.“
Gibt es falsche Vorstellungen oder Stereotypen über Einhörner, die du auf Basis deiner Recherchen korrigieren möchtest?
„Es gibt zwei interessante moderne Missverständnisse. Erstens stellen wir uns das Einhorn meist als weiblich vor, während es in mittelalterlichen Texten meist männlich ist – was für ein Symbol Christi und ein Tier, das von süßen jungen Mädchen angezogen wird, passender ist. Wie auch immer, es ist in erster Linie ein Tier, es sollte sowohl Männchen als auch Weibchen geben.
Zweitens sehen wir es als ein Tier aus dem Norden und aus dem Wald. In alten Texten heißt es, dass es in Indien oder Äthiopien vorkommt, und es ist eher ein Wüstentier.“
Lustige Erkenntnisse rund um Einhörner
Sicherlich hast du auch einige besonders kuriose oder lustige Geschichten gefunden. Was ist das Verrückteste, was du über Einhörner herausgefunden hast?
„Zwei lustige Geschichten. Die erste spielt im Italien der Renaissance. Die schöne Giulia Farnese hatte den Spitznamen ‚Sponsa Christi‘ (Anmerkung der Redaktion: übersetzbar als ‚gottgeweihte Jungfrau‘), nicht wegen ihrer zweifelhaften Jungfräulichkeit, sondern weil sie die Mätresse des Papstes war. Auf jeden Fall liebte sie Einhörner und es gibt mindestens drei Gemälde von ihr mit einem Einhorn und Einhörner überall an den Wänden in ihren vielen Palazzi.
Das zweite ist viel jüngeren Datums. Im späten 19. Jahrhundert ging das Gerücht um, dass Einhörner in Tibet und in Südafrika gesichtet worden waren. Daraufhin reisten englische Jäger nach Südafrika, um das Tier zu jagen – erfolglos. Sie fanden jedoch das (Anmerkung der Redaktion: damals noch unbekannte) Okapi.“
Kein rosarotes Kuschelwesen
Bist du angesichts deiner Recherchen überrascht, dass Einhörner heute oft rosa sind oder im Zusammenhang mit einem Regenbogen auftauchen? Was hältst du von diesem modernen Stil und woher kommt dieser Stil, der sich stark von den historischen Symbolen unterscheidet?
„Es stimmt, dass sich das heutige Einhorn stark von dem des Mittelalters unterscheidet, aber die meisten Veränderungen fanden im späten 15. und 16. Jahrhundert statt. Zu dieser Zeit wird das Einhorn zum Symbol für Reinheit und Jungfräulichkeit, es wird allein mit einer schönen Jungfrau dargestellt – ohne Jäger. Es wird weiß und bekommt das lange, spiralförmige Horn, das eigentlich ein linker Zahn des Narwals ist.“
Die Frage nach den Einhorn-Spielen
Obwohl du dich für dieses Thema interessierst und Einhörner sehr beliebt sind, hast du kein Spiel entwickelt, in dem Einhörner eine Hauptrolle spielen. Trennst du die beiden Bereiche Forschung/Spieldesign? Wird es jemals ein Spiel mit Einhörnern von dem Spieleautoren Bruno Faidutti geben?
„Ich habe ein Spiel, in dem ein Einhorn eine wichtige Rolle spielt: Grail Cup, das kürzlich von Matagot veröffentlicht wurde. Aber es ist ein sehr einfaches Spiel und das Einhorn, das von John Kovalic gezeichnet wurde, ist nicht sehr ernstzunehmen.
Allerdings versuche ich generell, meine Aktivitäten nicht zu vermischen. Ich bin Lehrer, aber ich setze keine Spiele in der Schule ein – ich halte das sogar für eine sehr schlechte Idee. Ich habe über Einhörner recherchiert, aber ich habe nie wirklich versucht, ein Spiel über Einhörner zu entwickeln. Spiele sind keine Bücher, sondern relativ abstrakte Maschinen, deren Setting nur sehr oberflächlich sein kann. Daher hat es absolut keinen Sinn, ein Spiel über ein Thema zu entwickeln, das man wirklich kennt. Ebenso habe ich festgestellt, dass ich viel besser darin bin, Themen zu unterrichten, über die ich nur ein wenig mehr weiß als meine Schüler, als solche, über die ich ein umfassendes Wissen habe. Wenn ich Letzteres versuche, möchte ich es komplett vermitteln, um eine Vereinfachung zu vermeiden. Dann werde ich verwirrend und uninteressant.
Andererseits haben viele befreundete Illustratoren Einhörner als Ostereier in meine Spiele eingebaut. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie alle entdeckt habe.“
Gibt es Spiele mit Einhörnern, die du wirklich magst?
„Im Moment fällt mir kein einziges ein.“
Da du also kein gutes Spiel mit Einhörnern gefunden hast: Wie kann man ein sehr schönes Spiel über Einhörner entwerfen? Wie überredet man den Spieleautor Bruno Faidutti zu einem Spiel mit Einhörnern?
„Wenn ich eines Tages eine gute Idee habe.“
English interview: Bruno Faidutti about unicorns (words only)
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2 Kommentare
Wie ? Es gibt keine Einhörner ?
Aber klasse Text !!!
Total interessante Antworten. Das mit dem Wein ist am witzigsten. Der Seitenhieb auf Jung grandios.
Ich gehe aber nicht mit beim Spieldesign. Gerade mit viel Ahnung vom Thema ist es doch leicht, ein Spiel zu erfinden.