Warum Spieler sich etwas besinnen sollten
In einem Monat ist es soweit. Die Spiel ’11 in Essen öffnet die Tore. Die weltweit bedeutendste und größte Spielemesse wird wieder nach offiziellen Zählungen rund 150.000 Menschen in ihren Bann ziehen. Der Nabel der Welt ist für vier Tage in Essen. Denn wieder einmal liefert der Merz-Verlag als Veranstalter des Spektakels schon im Vorfeld beachtliche Zahlen: Bisher (!) 780 Aussteller aus 34 Nationen werden über 700 Neuheiten präsentieren.
Über 700 Neuheiten? Einen Monat vor der Spielemesse? Selbst wenn man die typische Zählweise berücksichtigt, dass unter den Essener Neuheiten sich einige Spiele aus dem Frühjahr befinden, ist diese Zahl für mich nur eins: beängstigend. Jetzt werden sich alle fragen, warum.
So schön es ist, dass jeder Spieler sein Nischenspiel findet, das wirklich zu ihm passt, so fatal ist es für die Spieler als Gruppe. Denn diese Zahl von Neuheiten kann nicht mehr bewältigt werden. Und mit bewältigt meine ich in erster Linie gesichtet. Vom Spielen will ich an dieser Stelle mal gar nicht sprechen. Wenn aber keiner mehr die Spiele anständig sichten kann, wird entweder – ganz internet- und zeitgeisttypisch – schnell abgeurteilt, ohne den vielen Spielen Luft zum Atmen zu geben. Das heißt: intensiv die Infos ansehen, das Spiel tatsächlich begutachten, die Anleitung vielleicht lesen (gibt es ja im Web) und letztlich dem Spiel auch auf dem Spieltisch eine Chance geben. Es findet keine fachliche Orientierung mehr statt und selbst uns als großes Redaktionsteam fällt das sehr schwer. Obwohl wie jedes Jahr rund 150 bis 200 Rezensionen online bringen, können wir das nur in Ansätzen leisten. Oder die Spieleflut führt letztlich auch deshalb zur anderen Variante. Es wird auf bekannte Verlage oder sogar mal Autoren zurückgegriffen oder lieber eine Erweiterung für Die Siedler von Catan gekauft oder ein neues Themen-Monopoly.
Kurze Anmerkung: Jetzt werden einige Hardcorespieler sagen, dass sie diese Auswahl schätzen. Wenn Freaks als äußerst laute aber sehr kleine Gruppe nach immer neuen Spielen lechzen, üben sie maßgeblichen Druck aus. Aber sind Spiele von Verlag X oder mit Thema Y wirklich nach Presseinfo auszusortieren oder von vorn herein uninteressant? Wie viele Perlen bleiben unentdeckt? Wie intensiv kann (!) sich jeder wirklich mit allen (!) über 700 Neuheiten beschäftigen? Alles haben wollen, aber am Ende nur ein Bruchteil wirklich anschauen (können!)?
Bei aller Vielfalt sollte auch die Situation der Verlage berücksichtigt werden. Denn die mit dieser riesigen Zahl von Spielen verbundene Schnelllebigkeit (hey, in ein paar Monaten kommen schon die nächsten 700 Neuheiten) bedeutet ein immer schwierigeres Wirtschaften. Früher haben sich Spiele länger verkauft als heute. Heute, wenn ein Spiel von der kommenden Spielemesse schon wieder veraltet ist, bevor es überhaupt einer gespielt hat. Um auf gute Umsatzzahlen zu kommen, müssen sich die Verlage dem Trend anpassen und immer mehr Spiele auf den Markt werfen. Das ist auf Dauer ein großes Risiko. Der Markt ist hier in einer gefährlichen Spirale, wie mir letztes Jahr bereits einige Verlagsrepräsentanten erklärt haben. Kurz gesagt: Wer weniger Spiele macht, fällt weniger auf, verliert an Regalfläche im ebenso überforderten Handel und so weiter und so weiter. Dass ganz nebenbei auch die Qualität – und zwar die atmosphärische, nicht die handwerkliche – auf der Strecke bleibt, ist fast schon eine Zwangsläufigkeit.
Das alles wäre fast nur schlimmer, wenn ein Verlag auf der Spielemesse in Essen gar nicht mehr anwesend wäre. Denken zumindest die Spieler und Teile der Spieleszene. Dass eben diese Gruppen aber eklatant irren, wenn sie sich und die Spielemesse für den Nabel der Welt halten, zeigen zwei andere Beispiele.
Da ist Selecta Spielzeug, die in den letzten Jahren nicht auf der Messe vertreten waren. Da zumindest die Journalisten alle vor Ort waren, gab es aber immerhin Pressetermine in einem Hotel. Nach Aussagen von Geschäftsführer Matthias Menzel bringt die Spiel in Essen für den Verlag aber nur Kosten ohne wirtschaftlichen Nutzen. Eine andere Sichtweise habe ich als beruflich im Presse- und Marketingumfeld angesiedelter Mensch zwar, aber nachvollziehen kann ich das schon.
Der andere Fall ist Winning Moves. Ein Verlag, der auf gute und kurze Familienspiele setzt. Letztes Jahr beschloss die Geschäftsführung, nicht nach Essen zu kommen. Es wurde dann auf dem letzten Drücker doch noch ein Ministand gebucht, aber als Verlag war Winning Moves praktisch nicht vorhanden. Wider der Kritikererwartungen konnte der Verlag laut Pressemann Michael Tschiggerl keine negativen Auswirkungen auf den Verkauf der Spiele feststellen und wird auch dieses Jahr in Essen fehlen. Spieleszene aufgehorcht!
Daher ein Rat an alle Essen-Fans: Die Spielemaschinerie läuft immer schneller und schneller. Eigentlich für alle Beteiligten längst zu schnell. Ich finde es interessant, dass sich einige inzwischen ausklinken, und sehe selbst mit Sorge der Neuheitenflut entgegen. Über 700 Spiele (am Ende vermutlich um die 1.000!), die die Fans erwarten, Verlage veröffentlichen, um nicht ins Abseits zu geraten und ehrlicherweise keiner mehr sondieren kann. Die Spielemesse in Essen ist dann wohl doch eher für Freaks und für alle, die sich in der Spieleszene heimisch fühlen. Für die Menschen „da draußen“, die Tabu, Memory, Carcassonne und vielleicht noch Wizard spielen und den Verlagen damit die Taschen füllen, ist Essen völlig unbedeutend oder/und die Anzahl der Spiele schon jetzt zu groß. Also, kommt alle etwas herunter, begnügt euch mit Weniger, fordert nicht die (über-) nächsten Neuheit, bevor die Spiele in Essen überhaupt zu sehen sind. Vor allem: Gebt den Spielen eine Chance. Sonst sind die zukünftigen Neuheiten irgendwann kurz nach der Messe schon wieder Schnee von gestern und aus dem Handel genommen. Wir alle brauchen eine Entschleunigung! Dringend! Dann wird auch die Spielemesse wieder zu einer Messe des Spielens und Entdeckens, nicht des vorher ausgeklügelten Planablaufens, um alles wichtige möglichst schnell abzuhaken – es gibt ja zugegebenermaßen so viel davon in Essen auf der Spielemesse Spiel 2011.
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2 Kommentare
Die Spiel in Essen ist ein Konzentrat. Die Menge der weltweiten Aussteller gibt doch die Neuheiten vor und die Spiel ist auch Schaulaufen der Branche. Das kann man schlecht mit Geld beziffern. Mit fliegenden Bällen, die mit Gehirnströmen gesteuert werden und scheißende Teckels werden die normalen Besucher nach Essen gelockt. Die kommen, weil diese Dinge im Fernsehen zu sehen sind. Die anderen Besucher kommen, weil sie eh jedes Jahr dabei sind und spielen wollen. Wir (Verlage mit allem was dazu gehört und Spieler) wollten es so, wie es ist. Wenn sich Verlage ausklinken, nutzen sie nicht trotzdem die Energie der Messe, wenn sie von einem Hotel in der Nähe von dem Rummel profitieren? Selbst wer das nicht macht, hat was davon, wenn seine Branche vor Weihnachten breit in den Medien vertreten ist. Ohne Kosten. Die Anderen bezahlen ja die Musik. Entschleunigen wäre schön, allerdings würden im weltweiten Handel dann andere von unsere Gemütlichkeit profitieren.
Angeblich gibt es in Asien schon Raubkopien unserer Spielemesse aus Essen. 😉
Sehr guter Gedankengang!
Ich selber finde mich besonders im letzten Absatz wieder. Da ich dieses Jahr das erste mal mehr als einen Tag dort sein werde, habe ich auch alles vorher durchgeplant, da es zu viele gut klingende Spiele gibt, denen ich eine Chance einräumen möchte! Das nachher doch einige zu kurz kommen werden ist klar und schade.
Als ein gutes Beispiel für das beschriebene Phänomen kann ich "Egizia" nennen. Letztes Jahr durch Zufall auf der Messe getestet und sofort gekauft, ging es das Jahr über ziemlich unter und nur "Spiele-Freaks" haben von dem Spiel gehört. Einfach schade!
Man darf gespannt sein, wohin das führt!