Reich der Spiele

Holmes

2-Personen-Spiel Holmes - Foto von Kosmos
„When you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth.” (Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles „The Sign of Four“)

Er ist der wohl bekannteste Detektiv der Literatur- und Filmgeschichte: Sherlock Holmes, stets in Begleitung seines treuen Freundes und Gehilfen Dr. Watson. Trotz seiner starken Verwurzelung im kollektiven Gedächtnis gibt es erstaunlich wenige Brettspiele, die sich mit dem kongenialen Analytiker und Forensiker befassen. Dabei bietet sich der Stoff für ein Deduktionsspiel geradezu an. Kosmos nutzt die berühmt-berüchtigte Fehde zwischen Sherlock Holmes und seinem Erzfeind Professor Moriarty nun für seine Zwei-Spieler-Reihe – allerdings auf überraschende Art und Weise. Holmes von Diego Ibáñez ist nicht etwa ein Deduktionsspiel, sondern ein Kartensammelspiel. Sherlock Holmes ohne detektivisches Gespür und kriminalistisches Feeling – kann das funktionieren?

 „The game is afoot“: So funktioniert das Kartenspiel Holmes

Per Worker-Placement-Mechanismus besuchen Holmes und Moriarty (aka die Spieler) verschiedene Charaktere und führen die zugehörigen Aktionen aus. An jedem Tag der Woche (es wird über 7 Runden gespielt) trifft eine weitere Figur ein. Soweit erinnert das Prinzip stark an Shakespeare – bis hin zu den Details, denn wie bei Shakespeare sind Besuchte in der Folgerunde unpässlich; zumindest wenn sie beiden Spielern beistanden.

Gemäß des Sammelprinzips gilt es, möglichst viele Hinweiskarten (Indizien wie Knöpfe, Zigarettenstummel und Co) einer Art zu ergattern. Als Währung dienen sogenannte Einflussmarker in Lupenform, mit denen die Hinweiskarten erworben werden können. Kartenreservierungen, verdeckte Hinweise und Ereignisse bringen Abwechslung ins Spiel.

Am Spielende werden die Indizienarten einzeln abgerechnet – wer weniger der entsprechenden Hinweiskarten hat, geht leer aus. Dabei bringen häufige Indizien mehr Punkte als seltene, allerdings wird die beim Gegner vorhandene Anzahl als Minuspunkte verrechnet.

Das Duellspiel im Schatten: Ist die Holmes-Übersetzung ins Kartenspiel gelungen?

Eines der wenigen Gesellschaftsspiele, die sich bisher mit den Fällen des Sherlock Holmes befasst haben, war das Spiel des Jahres 1985: Sherlock Holmes Criminal Cabinet. Dieses konzentriert sich auf das detektivische Gespür der Spieler und ist eher im Bereich Mitmach-Krimi einzuordnen. Ganz generell gibt es – unabhängig von Arthur Conan Doyles unsterblichen Figuren – nur wenige Detektivspiele, die nicht auch Deduktionsspiele sind. Ob Cluedo, Scotland Yard, Heimlich und Co oder Der Name der Rose – all diese Spiele sind zugleich auch fiktive Rätselwelten, die die Spieler in die Welt der Spurensuche, der Forensik oder auch der Verfolgung eintauchen lassen.

„The little things are infinitely the most important” – Atmosphäre und literarischer Anspruch

Holmes gestaltet sich dabei erfrischend anders. Die Atmosphäre ist trotz fehlender Deduktionselemente kriminalistisch angehaucht und wird durch liebevoll gestaltete Details unterstützt. Besonders schön ist das als aufklappbares Buch gestaltete Spielbrett, das schon vor Spielbeginn in die Welt Arthur Conan Doyles entführt: „Das Tagebuch von Dr. Watson – Duell im Schatten“. Holmes-Liebhaber werden die Anspielung auf den Kinofilm Sherlock Holmes 2: Spiel im Schatten (2011) entdeckt haben. Beides, der Film Spiel im Schatten als auch das „Duell[-spiel] im Schatten“, ist übrigens keine direkte Umsetzung eines Doyle-Werkes, sondern denkt diese weiter.

Die Spielcharaktere sind von Pedro Soto liebevoll gezeichnet. Mit dem modernen Graphic-Novel-Stil trifft er genau das richtige Maß zwischen Stereotypie und erfrischender Neuumsetzung. Optisch spricht Holmes damit Erwachsene und Kinder ab zehn Jahren gleichermaßen an.

Wer die Nebenfiguren nicht schon aus den Geschichten kennt, wird sich dennoch schnell im Spiel und im Holmes-Kosmos zurechtfinden – nicht zuletzt dank des in die Anleitung integrierten Who is who (Wermutstropfen: der fehlende Eintrag zu Mycroft Holmes, der an anderer Stelle ins Spielkonzept integriert ist). Spielerisch passen die jeweiligen Fähigkeiten zu den Figuren; der Bezug ist allerdings den Spielmechanismen deutlich untergeordnet. Hier wäre eine tiefergehende Verzahnung von Stoff und Spielprinzip schön gewesen. Insbesondere die Frage, warum Professor Moriarty plötzlich ebenfalls Indizien sammelt, irritiert etwas – das angedachte „Spuren verwischen“ will sich jedenfalls nicht stimmig in das Sammelkonzept fügen. Sinniger erscheint hier die Lösung des englischen Originals, bei der Sherlock und sein Bruder Mycroft um die Wette ermitteln (Holmes: Sherlock & Mycroft, Devir Iberia, 2016). Vor diesem Hintergrund wird auch die etwas seltsam anmutende Rolle Mycrofts als Störenfried (er kommt durch zwei Sonderkarten ins Spiel, die beiden Duellanten schaden) nachvollziehbarer; schließlich war diese im englischen Original wohl einer anderen Figur vorbehalten.

“I play the game for the game’s own sake.” – Spielkonzept

Insgesamt ist die auf Backcover und in der Anleitung erzählte Hintergrundgeschichte austauschbar und wird nach dem Lesen schnell vergessen – dreht sich das Spiel doch wenig spezifisch um Indizien, die wohl zu fast jedem Holmes-Fall passen würden. Dennoch, ein gutes Spiel trägt sich schließlich selbst. Wie spielt es sich denn nun, dieses Holmes?

Die verdeckten Hinweise bringen die Bluffnatur der Spieler zum Vorschein. Nun gilt es, wie Sherlock Holmes das Unmögliche vom Unwahrscheinlichen zu unterscheiden. Und wie Moriarty muss man in der Lage sein, Nerven zu bewahren und den Gegner in die Irre zu führen.

Je nachdem, wann die Figuren ins Spiel kommen, wirken sie sich unterschiedlich auf das Spielgeschehen aus. Mal trifft Irene Adler schon zu Beginn der Woche ein, mal gar nicht. So weiß man nie, was als nächstes kommt. Holmes ist damit zwar sehr taktisch, aber nur bedingt strategisch ausgerichtet. Wie der Detektiv müssen sich die Duellanten an wechselnde Gegebenheiten anpassen und mit dem arbeiten, das sich ihnen bietet. Dementsprechend ist der Glücksfaktor relativ hoch.

Insgesamt erscheinen die Aktionen und Sonderfähigkeiten gut ausbalanciert. Je nach Situation und Zeitpunkt sind die Karten unterschiedlich mächtig. Ein wenig unausgeglichen wirkt allerdings die Rollenverteilung. Sherlock ist immer Starspieler, was wohl dadurch ausgeglichen werden soll, dass Moriarty zuerst eine Karte für sich reservieren darf. Wenn er sich aber dagegen entscheidet oder bis zum letzten Moment wartet, bleibt Sherlock keine Möglichkeit mehr, selbst diese Funktion zu nutzen. Die Balance des Spiels funktioniert zwar dennoch, spielerisch hätte hier aber noch eingehakt werden können. Thematisch gesehen ist es dagegen gelungen, dass sich beide Rollen leicht unterschiedlich spielen.

“There is nothing new under the sun. It has all been done before.”

Nun ist ein Kartensammelspiel nichts Neues. Das Gleiche gilt für den Worker-Placement-Mechanismus. Und ja, auch die Kombination aus beidem ist keine bahnbrechende Neuheit auf dem Spielemarkt. Interessant – aber ebenfalls nicht neu – ist die Umsetzung eines nicht konkurrierenden Worker-Placement-Mechanismus. Holmes und Moriarty können dieselbe Person besuchen – eine Doppelbelegung, die in klassischen Aufbau-Worker-Placement-Spielen nur bei Basisrohstoffen wie Holz oder Stein üblich ist (z.B. in Die Säulen der Erde, um mal bei den Literaturspielen zu bleiben).

Dennoch entfaltet Holmes seinen eigenen Reiz. Ob es die Überraschung ist, gerade dieses Thema nicht als Deduktionsspiel zu erleben? Vielleicht. Vor allem aber ist es die gelungene Verknüpfung von Atmosphäre und Spielmechanismus. Man fühlt sich tatsächlich in die Straßen Londons um 1900 versetzt. Holmes schafft etwas, das nur wenigen Detektivspielen zuzusprechen ist: Man spürt Indizien nach, folgt seiner kriminalistischen Ader – und spielt dabei doch kein Deduktionsspiel. Man blufft, taktiert, beobachtet das Verhalten des Gegners – kurz, man spielt Detektiv, im wahrsten und doppelten Wortsinne.

Der Glücksfaktor mag für den ein oder anderen Strategen störend wirken; dafür unterstreicht es die Atmosphäre des Ungewissen, die mit dem Lösen eines Falls und der spielerisch umgesetzten Feindschaft zwischen Holmes und Moriarty einhergeht. Und es ist gerade diese Unvorhersehbarkeit, die den Wiederspielreiz ausmacht – auch wenn der noch Potenzial nach oben hat.

Sherlock Holmes ohne detektivisches Gespür und kriminalistisches Feeling – kann das funktionieren?

Die Antwort lautet: Keine Ahnung. Denn Holmes ist ein Spiel, das all das gelungen einfängt und dabei bestens unterhält. Um es mit den Worten Arthur Conan Doyles (pardon, Sherlock Holmes) zu sagen: „No, Watson, this was not done by accident, but by design.“ Im positiven Sinne, versteht sich.

Spielanleitung zu Holmes

Infos zu Holmes

  • Titel: Holmes
  • Verlag: Kosmos
  • Autor: Diego Ibánez
  • Spieleranzahl (von bis): 2
  • Alter (ab oder von bis in Jahren): 10
  • Dauer in Minuten: 30
  • Jahrgang: 2017

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